Unter Helmen - die Motorradkolumne (5): "Die Streckensperrung"


Burkhard Straßmann

 


Eine Straße ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Im Prinzip. Diesem Prinzip stellen sich zum Beispiel Berge in den Weg, Aussiedlerhöfe und tausendjährige Eichen. Darum hat die Menschheit die Kurve erfunden.

Die längste Verbindung zwischen zwei Punkten findet man an den Stauseen unserer Mittelgebirge. Folglich auch die schönsten Serpentinen und dramatischsten Kurvenkombinationen. Weil ein Motorradfahrer sich überhaupt niemals für die kürzeste, sondern immer für die kurvenreichste Verbindung zwischen zwei Punkten interessiert, nimmt er am Wochenende die Generalkarte zur Hand und sucht nach blauen Flecken im Mittelgebirge. Ein solcher blauer Fleck ist der Rursee in der Eifel.

Kaum ist der Motorradfahrer am Ufer des Rursees angekommen, die Reifen sind warm, die Hüften locker, steht er vor einem Verkehrsschild: Fahrverbot für Motorräder.

Das Problem ist: Nicht ein Motorradfahrer nimmt am Wochenende die Generalkarte zur Hand. Auch nicht hundert. Tausende suchen nach Talsperren als Tagesziel, um dort zu finden, was der Motorradfahrer zu seinem Glück braucht: Schräglage. Besonders die armen Holländer kommen in hellen Scharen: Sie haben daheim weder Stauseen noch Kurven. Und es erzittern bei schönem Wetter die sonst so verschlafenen Eifeltäler von den dahindonnernden Motorrädern. Die Dörfler halten ihre Kinder im Haus. Über der Szene kreist der Rettungshubschrauber.

Eines Tages rief ein Kölner Rechtsanwalt, dem es in seinem Wochenendhäuschen in Woffelsbach am Rursee zu laut geworden war, bei der Bezirksregierung an. Seit Ostern ist nun die Straße zwischen Woffelsbach und der oberen Staumauer für Motorräder gesperrt. Samstags, sonntags und feiertags.

Diese plötzliche Ruhe in Steckenborn! Steckenborm liegt in der Höhe, von hier stürzt sich eine Straße kurvenreich in die Tiefe nach Woffelsbach. Zu Hunderten preschten hier an Sommertagen die Motorräder talwärts. Auf dem Asphalt sind Sprüche zu lesen. "Nordschleife" zum Beispiel, "Suzuki-Kurve, Gas! Ab hier 160!" Oder: "Watzmann's 4. Weizen". Watzmann ist der anerkannt schnellste Steckenborner. Das vierte Weizen war zu viel.

"Boxengasse" und "Fahrerlager" steht am Parkplatz mit Seeblick. Hier waren es immer vierzig, fünfzig Motorradfahrer, die herumstanden und Kurvenlagen kommentierten.

In diesem Teil der Eifel tragen die Leitplanken Schaumprotektoren. An den Straßenrändern stehen Kreuze für die Gefallenen. "Fahrt euch doch am Nürburgring tot!" schlagen Einheimische vor. Der Nürburgring liegt achtzig Kilometer südlich. Sein Nachteil: Die Runde kostet 22 Mark. Am Rursee dagegen fährt man kostenlos. Leider kann es hier manchmal Gegenverkehr und Fußgänger oder Tiere auf der Fahrbahn geben. Das wird manchmal vergessen.

Menschen, die gleichzeitig Motorradfahrer und Eifelbewohner sind, betrachten das Thema Streckensperrungen differenziert. Die Ruhe, natürlich, ist schön. Schön auch, daß diese Verrückten mit ihren 140 PS, den jaulenden Vierzylindern und von allen Schalldämpfern befreiten "Krawalltüten" vergrault werden, sobald sich das Fahrverbot herumgesprochen hat. Andererseits stehen auch für die Eifelbewohner Lieblingsstrecken auf dem Spiel.

Betrachten wir Ernie aus Steckenborn. Sozialarbeiter, zwei Kinder, Moto Guzzi mit Lafranconi-Auspufftüten, die keinen guten Ruf, aber einen guten Sound haben. Ernie ist "heute vernünftig". Als jugendlicher Mopedfahrer hat er runter nach Woffelsbach jeden abgehängt. Gefahren wurde nur auf der äußersten Profilrille. Held der Dorfjugend war, wer nach wiederholtem Aufsetzen die spitzesten Fußrasten vorweisen konnte.

Selbst zwei lebensbedrohende und zahllose kleinere Unfälle konnten das Verhältnis zwischen Ernie und seinem Motorrad nie ernsthaft trüben. Erst neulich ist sein Kumpel unter einer Leitplanke durchgerutscht - querschnittsgelähmt. Trotzdem: Wenn die Sonne rauskommt über der Eifel, juckt es in der Gashand. Dann muß Ernie eben mal runter, an den Rursee. An irgendwelche Rekorde denkt Ernie dabei nicht. Ein Bekannter ist stolz darauf, daß er die lange Kurve vor Steckenborn mit 180 nimmt, beim Kurvenausgang voll aufdreht und am Ortseingangsschild 220 Sachen auf der Uhr hat. Eine Leistung, von der unter Motorradfahrern mit einer Mischung aus Respekt und Kritik gesprochen wird.

"Nur die Besten sterben jung", hat ein Idiot auf den Asphalt gekritzelt. Teil des Motorradproblems am Rursee ist es, daß an sonnigen Wochenenden zu viele hier eintreffen, die den Spruch gar nicht für idiotisch halten.

 

In der newsgruppe de.rec.motorrad finden Sie weitere Debatten zum Thema. Mitunter spielt auch diese Kolumne eine nicht ganz unmaßgebliche Rolle.


© beim Autor/DIE ZEIT 1996 Nr. 33
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